Am 24. April 1945 überschritten die ersten Einheiten der Roten Armee die Südgrenze Neuköllns. In den folgenden Tagen gelang es den sowjetischen Truppen gegen die deutschen Streitkräfte vorzurücken. Die letzte Gegenwehr von deutschen Verbänden in Neukölln konnte am 28. April 1945 gebrochen werden. Der Sieg der Alliierten bedeutete das Ende der nationalsozialistischen Herrschaft in Neukölln und die Befreiung für Zwangsarbeiter_innen sowie Jüdinnen_Juden. Viele der Zwangsarbeiter_innen und die absolute Mehrzahl der Neuköllner Jüdinnen_Juden erlebten die Befreiung jedoch nicht mehr. Schließlich bedeutete der Sieg der Roten Armee auch die Befreiung für die Widerstandskämpfer_innen der verschiedenen sozialdemokratischen, kommunistischen und liberalen Gruppen.
Mit dem Überfall Deutschlands auf Polen im September 1939 hatte die NS-Eroberungspolitik begonnen, die in den folgenden Jahren fast ganz Europa unter deutsche Herrschaft zwang. Der deutsche Angriff auf die Sowjetunion stellte eine grundlegende Radikalisierung der NS-Kriegspolitik und des deutschen Antisemitismus dar. Den Truppen der Wehrmacht folgten die deutschen Einsatzgruppen, die in Massenerschießungen Kommunist_innen, Jüdinnen_Juden und Rom_nja ermordeten. Zeitgleich verfolgten die Deutschen das Ziel einer Neuordnung Osteuropas unter rassenpolitischen Vorzeichen. Durch Deportation und Vernichtung von als nicht-arisch definierten Menschen sollte „Lebensraum“ für die Deutschen geschaffen und Osteuropa auf Dauer „germanisiert“ werden.
Währenddessen wurden Jüdinnen_Juden systematisch in Ghettos und Konzentrationslager deportiert. Was sich angesichts der Novemberpogrome 1938 in Deutschland kaum erahnen ließ, wurde im Zuge des deutschen Vernichtungsfeldzug gegen die Sowjetunion zur Realität: die planmäßige, industriell organisierte Vernichtung der Jüdinnen_Juden im deutschen Herrschaftsbereich.
Bis zum alliierten Sieg über Deutschland forderte der deutsche Antisemitismus 6 Millionen Opfer. Gleichzeitig wurden aus einem deutschen antiziganistischen Vernichtungswahns heraus hunderttausende Sinti_zza und Rom_nja ermordet. Darüber hinaus wurden Millionen Bewohner_innen der besetzten Länder, Kriegsgefangene, Kommunist_innen und andere politische Gegner_innen, Homosexuelle und Trans_Personen, Menschen mit sogenannten Behinderungen und als „asozial“ Verfolgte Opfer der NS-Vernichtungspolitik.
Während die dafür verantwortliche deutsche Volksgemeinschaft an den Endsieg glaubte und die Mordpolitik bis zuletzt mittrug, bedeutete der Sieg der Anti-Hitler-Koalition für Millionen Menschen die Befreiung.
Der organisierte Massenmord an Jüdinnen_Juden wurde durch die »Befreiung« beendet, nicht jedoch alle Formen antisemitischer Verfolgung in West- und Osteuropa. In den Hauptstädten der besetzten Länder wurden die Sieger mit Jubel begrüßt, Jüdinnen_Juden hingegen hatten keinen Grund, sich zu freuen. Die wenigen Überlebenden wussten, dass sie keinen Ort hatten, an den sie hätten zurückkehren können. Die in Neukölln befreiten Zwangsarbeiter_innen, vornehmlich aus der Ukraine und Belarus, haben bis heute keine angemessene Entschädigung aus Deutschland enthalten. Überlebende müssen um ihre Ansprüche auf die sogenannte „Ghetto-Rente“ kämpfen, während ehemalige Mitglieder der SS und Wehrmacht hohe Renten beziehen.
Obwohl die in den vergangenen Jahren aufgenommenen Gerichtsverfahren gegen NS-Täter deutlich gemacht haben, dass die funktionale Beteiligung am Massenmord als »Beihilfe zur Haupttat« gewertet und entsprechend geahndet werden kann, zeigt sich die deutsche Justiz weiterhin zögerlich gegenüber noch lebenden und bisher nicht belangten Täter_innen. In Neubrandenburg wurde das Verfahren gegen einen früheren SS-Sanitäter im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau solange verschleppt bis es letztendlich aufgrund angeblicher Verhandlungsunfähigkeit eingestellt wurde. Zuvor waren die Richter_innen des Prozesses wegen Befangenheit abgelehnt worden.
Sie stellten ihren Unwillen das Verfahren zu führen zur Schau, indem sie unter anderem versuchten einem Nebenkläger und Holocaust-Überlebenden die Teilnahme an der Verhandlung zu verwehren. In den Fällen, in denen Verfahren zu Ende geführt wurden, ertönte als gesellschaftlichen Reaktion vielfach ein Unverständnis darüber, so alte Menschen noch zu einer Haftstrafe zu verurteilen: Unter die Vergangenheit solle lieber endlich ein Schlussstrich gezogen werden.
Noch aggressiver in die reaktionäre und revisionistische Kerbe schlagen Vertreter_innen der „Neue Rechte“ und besonders der völkische Flügel der AfD.
Nicht erst seit Björn Höckes ausgesprochener Forderung nach einer „erinnerungspolitische Wende um 180 Grad“, ist der Angriff auf die als Hindernis identifizierte Erinnerung an die Verbrechen des Nationalsozialismus in der Partei Programm. Das erklärte Ziel ist die deutsche Geschichte positiv zu besetzen. Dieses wird versucht umzusetzen über parlamentarische Wege zur Streichung von Mitteln für Gedenkstätten und historisch-politische Bildungsarbeit. Ein Verordneter der AfD in der Neuköllner Bezirksverordnetenversammlung lehnte eine Unterstützung von Stolpersteinverlegungen durch das Bezirksamt mit der Begründung ab: durch eine entsprechende Regelung könnten schließlich auch NS-Opfer mit späterer Funktion im Realsozialismus einen Anspruch auf Gedenken haben. Erinnerungspolitik wird grundsätzlich diskutierbar. Die Vertreter_innen der Neuen Rechten verschieben so den gesellschaftlichen Diskurs.
Wie es um den emanzipatorischen Gehalt der öffentlich wahrnehmbaren Gegenpositionen zu denen der AfD bestellt ist, zeigt der Blick in Debatten im Deutschen Bundestag. In einer in linksliberalen Kreisen viel gefeierten Gegenrede von Cem Özdemir zu einem AfD-Antrag, rühmte der Grünen-Politiker die deutsche „Erinnerungskultur“ als moralischen Standortvorteil, auf die er stolz sei und für die die BRD schließlich weltweit geachtet werde. Sein größter Vorwurf an die AfD lautete dann auch: fehlender Patriotismus.
Der Aufarbeitungsweltmeister ist unbestreitbar zur europäischen Führungsmacht geworden. Die EU-Staaten in Südeuropa werden zu Erfüllungsgehilfen der Flüchtlingsabwehr gemacht, bei der sich die Bundesregierung nicht selbst die Hände schmutzig machen will. Rassist_innen und Antisemit_innen sind nur noch die anderen, vorzugsweise Geflüchtete und Muslime. Dass es wahrlich kein Grund gibt, belehrend den Zeigefinge zu schwingen, wird mit Blick auf den in absehbarer Zeit zu Ende gehenden Prozess zur NSU-Mordsserie mehr als deutlich. Sowohl bei der nun seit fast zwei Jahren andauernden neonazistischen Angriffsserie gegen Antifaschist_innen in Neukölln als auch bei der Ermordung Burak Bektas 2012 ist keine Aufklärung in Sicht.
Den 28. April nehmen wir zum Anlass, um an die Befreiung Neuköllns durch die Rote Armee zu erinnern und dabei nicht zu vergessen, dass Antisemitismus, Rassismus und Neonazismus Teil des bundesdeutschen Alltags sind.
Unser Dank gilt den alliierten Armeen, den Partisan_innen und allen anderen Menschen, die unter Einsatz ihres Lebens für die Zerschlagung Deutschlands kämpften.
Der Sieg über die Deutschen bedeutete nicht weniger als die Befreiung der Menschen vom Nationalsozialismus.
Unser Dank heißt Krieg den deutschen Zuständen!
In diesem Rahmen laden wir auch dieses Jahr zu einer Veranstaltung ein:
Führung: Das rote Neukölln – Widerstand und Verfolgung 1933-1945
Samstag 28. April | 15.00 Uhr | Startpunkt: Galerie Olga Benario (Richardstraße 104, Berlin-Neukölln)