Am hellichten Tag und unter aller Augen…
Am 9. November 1938 fanden die Novemberpogrome ihren Höhepunkt. Im deutschen Herrschaftsbereich wurden Jüdinnen_Juden vergewaltigt, inhaftiert, verschleppt und ermordet. Jüdische Geschäfte, Wohnungen, Gemeindehäuser und Synagogen wurden geplündert, zerstört und in Brand gesetzt. Auf den Straßen entfesselte sich der deutsche antisemitische Terror, der in der Nacht staatlich angestoßen und orchestriert wurde. SA und SS führten unterstützt durch Polizei und Feuerwehr die Morde, Brandstiftungen und Verwüstungen an. Die nicht-jüdische Bevölkerung beteiligte sich an dem Pogrom oder stimmte mit ihrem Schweigen zu. Insgesamt wurden in den Tagen um den 9. November 1.300 Jüdinnen_Juden ermordet, über die Hälfte der Gebetshäuser und Synagogen in Deutschland, Österreich und dem annektierten Sudetenland wurden zerstört. Ab dem 10. November erfolgte die Deportation von 30.000 Jüdinnen_Juden in Konzentrationslager. Die Pogrome waren Wegbereiter für die Shoah.
Wir gedenken auch dieses Jahr der Opfer der Novemberpogrome 1938:
9. November 2022 | 18.00 Uhr | Kundgebung & Demonstration: Wir gedenken am 9. November 2022 der Opfer der Novemberpogrome 1938 | Mahnmal Levetzowstraße (Berlin Moabit)
Wie schon in den vergangenen Jahren rufen wir als antifaschistisches Bündnis für den 9. November 2022 um 18.00 Uhr in Gedenken an die Novemberpogrome von 1938 zu einer Kundgebung vor dem Mahnmal Levetzowstraße sowie zu einer anschließenden Demonstration durch Berlin-Moabit auf. Wir rufen auf zu einem heute weiterhin notwendigen antifaschistischen Gedenken, das an diesem Ort bereits seit mehreren Jahrzehnten Tradition hat. Im Jahr 1990 organisierte das Antifaschistische Aktionsbündnis Moabit die erste Gedenkveranstaltung zu den Novemberpogromen mit rund 60 Teilnehmer*innen. Seit 1990 überschatteten die Feierlichkeiten zum Mauerfall das Gedenken an die nationalsozialistischen Pogrome. Das antifaschistische Gedenken in Moabit richtete sich daher von Anfang an sowohl explizit gegen den erinnerungspolitischen Konsens der BRD als auch gegen den wieder spürbar anwachsenden deutschen Nationalismus. Damals war das Gedenken an die Novemberpogrome kaum verbreitet in der Linken und erst Recht nicht beim Rest der deutschen Gesellschaft. Es fand bis zu diesem Zeitpunkt hauptsächlich in den jüdischen Gemeinden statt. Gleichzeitig war mit den Republikanern eine extrem rechte Partei in Fraktionsstärke Teil der Berliner Bezirksverordnetenversammlungen und Neonazi-Parteien, wie die FAP, waren aktiv auf den Straßen. Auch als Antwort auf die rassistischen Pogrome und Brandanschläge in den 1990er Jahren, wie in Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen, gab es nur eine Konsequenz: Gedenken muss antifaschistisch sein. Ein Gedenken, das zugleich laut sowie kämpferisch und den Opfern des Nationalsozialismus gewidmet ist. Nicht zuletzt war das Gedenken selbst Ziel von Angriffen, wie der Bombenanschlag auf das Deportations-Denkmal auf der Putlitzbrücke 1992 zeigte.
9. November 1938 – Auftakt der Entscheidung zur Vernichtung
In den Tagen um den 9. November 1938 wurden insgesamt rund 1.300 Jüdinnen*Juden ermordet, zahlreich misshandelt sowie vergewaltigt und über die Hälfte der Gebetshäuser und Synagogen im damaligen Deutschen Reich zerstört. Der deutsche Mob drang in seiner antisemitischen Zerstörungswut in Geschäfte und Wohnungen ein. Ein hasserfüllter Ausbruch, von NSDAP und SA orchestriert und mithilfe einer willigen deutschen Masse ausgeführt. Auf das staatlich initiierte Pogrom folgten ab dem 10. November die ersten reichsweiten systematischen Deportation von 30.000 Jüdinnen*Juden in Konzentrationslager – etwa 6.000 von ihnen kamen aus Berlin.
Bis zum 9. November 1938 hatte das nationalsozialistische Deutschland Jüdinnen*Juden Schritt für Schritt mit Berufsverboten, Ausschluss aus Universitäten und Schulen, den sog. Nürnberger Rassegesetzen und dem Raub jüdischen Eigentums aus der Gesellschaft ausgegrenzt und verarmen lassen sowie zur Zwangsarbeit gezwungen. Nach den Pogromnächten lag der Fokus der nationalsozialistischen Verfolgungspolitik zunächst auf der Vertreibung der als jüdisch Verfolgten aus dem deutschen Reichsgebiet, wobei die Emigration einem zermürbenden Spießrutenlauf durch die deutsche Bürokratie gleichkam. Zusätzlich mussten die Verfolgten bestimmte Bedingungen für das Visum im Ausland erfüllen. Chronisch Kranken, Alten und all jenen, die etwa keinen Berufsabschluss hatten (was insbesondere Frauen betraf), wurde das Visum verwehrt. Zudem betrieben die meisten Länder eine restriktive Einwanderungspolitik.
Mit dem Überfall Deutschlands auf Polen begann 1939 die NS-Eroberungspolitik. Hinter den Truppen der nach Osteuropa vorrückenden Wehrmacht folgten die deutschen Einsatzgruppen, die die als „Volksfeinde“ gebrandmarkten Menschen in Massenerschießungen ermordeten. Neben Jüdinnen*Juden wurden nach Schätzungen etwa 500.000 Rom*nja und Sinti*zza im Porajmos, Homosexuelle, Menschen mit vermeintlichen Behinderungen und psychischen Krankheiten, Kommunist*innen und andere politische Gegner*innen sowie weitere Opfergruppen ermordet. Die NS-Vernichtungspolitik gipfelte in der Shoah, dem industriellen Massenmord. Die Entscheidung dazu fiel vermutlich im Winter 1941. Bis 1945 ermordeten die Deutschen sechs Millionen Jüdinnen*Juden.
Gedenkpolitik als praktischer Antifaschismus
Das einprägsame Zitat von Primo Levi „Es ist geschehen und folglich kann es wieder geschehen“ bringt seit jeher den Antrieb für unsere Demonstration zum Ausdruck. Der Vorsatz, die Gesellschaft so einzurichten, dass sich die nationalsozialistischen Gräueltaten eben nicht wiederholen und eine Welt des Friedens und der Freiheit zu schaffen, ist Voraussetzung für antifaschistische Praxis. Im staatlichen Gebrauch verkommt das „Nie Wieder“ zu einer Erfolgsgeschichte mit liberaler Demokratie und Grundgesetz als einzig möglichem Happy End. Dabei wird die Kontinuität antisemitischen und rassistischen Gedankenguts und die hieraus motivierte Gewalt verdrängt, beschönigt und zu Einzeltaten heruntergespielt.
Das Gedenken am 9. November am Mahnmal Levetzowstraße soll explizit nicht unter dem Deckmantel „deutscher Aufarbeitung“ zu Verharmlosung, Verleugnung, Verdrängung oder Historisierung der Shoah beitragen. Es soll sich nicht instrumentalisieren lassen können und entgegen einer Vereinnahmung der Erinnerung für staatliche Zwecke und der Standortlogik stehen.
Wir unterstreichen mit diesem Gedenken unsere Forderung nach Entschädigung der letzten überlebenden Opfer des Nationalsozialismus und der Shoah. Außerdem verlangen wir, dass noch lebende NS-Täter*innen bestraft werden: Wir wenden uns gegen einen Schlussstrich. Die Erinnerung und die andauernde Vergegenwärtigung der Verbrechen des NS-Regimes und die Kontinuität rassistischer, antisemitischer und nationalistischer Einstellungen, die damals zum millionenfachen Mord geführt haben, ist die Basis eines gegenwärtigen Antifaschismus.
Kampf den alten und neuen Nazis. Kampf dem Antisemitismus und Rassismus.
Gedenken heißt Handeln!
Weitere Hintergründe, den diesjährigen Aufruf und Veranstaltungsankündigungen findet Ihr auch auf der Homepage des 9. November Bündnisses.