REDEBEITRAG zum 9. November 2021

Redebeitrag zur Singularität der Shoah und ihrer Funktionalisierung, gehalten auf der antifaschistischen Kundgebung in Berlin-Moabit in Gedenken an die Novemberpogrome von 1938.

Liebe Antifaschist_innen,

Im Jahr 1990 organisierte das Antifaschistische Aktionsbündnis Moabit im Stadtteil die erste antifaschistische Gedenkkundgebung bzw. Demonstration. Die Feierlichkeiten zum Mauerfall überschatteten schon damals das Gedenken an die nationalsozialistischen Pogrome. Das antifaschistische Gedenken in Moabit richtete sich daher von Anfang an explizit gegen den erinnerungspolitischen Konsens der BRD. Es war noch nicht lang her, dass sich in den 1980er Jahren immer mehr Initiativen gegründet hatten, die sich vier Jahrzehnte später einem Gedenken an NS-Opfer widmeten. Heute sind aus den Initiativen zum Teil relevante Institutionen geworden, die die erinnerungskulturelle Landschaft Deutschlands bilden: Einst als Bewegung von unten gegen den Konsens in der BRD gestartet, wird das Gedenken heute zunehmend für das offizielle moralisches Gewissen Deutschlands vereinnahmt.


Gegen welch enorme gesellschaftliche Widerstände selbst dieser Status quo entstand, zeigt auch der so genannte Historikerstreit in den 1980er Jahren. Die Debatte war bahnbrechend zum Verständnis der Shoah. Ausgelöst hatte sie Ernst Nolte durch einen revisionistischen Vergleich der Shoah mit dem sowjetischen Gulag-System und der Deutung des Nationalsozialismus als Reaktion auf eine vermeintliche existenzielle Bedrohung durch den Kommunismus. Diese Bagatellisierung sollte eine ungebrochene deutschnationale Identität ermöglichen – was auch einem gesellschaftlichen Begehren der heutigen Zeit entspricht.
Als Gegenreaktion auf diese Auslegung des Nationalsozialismus wurde erneut der Begriff der Singularität der Shoah verstärkt aufgegriffen. Singulär ist sie zweifellos vor allem aufgrund der nationalsozialistischen Prämisse, die als jüdisch verfolgten Menschen flächendeckend zu ermorden, und zwar nicht, um ein rationales Ziel zu erreichen, sondern ausschließlich aus ideologischen Gründen. Ähnlich rein ideologisch motiviert waren zudem aber auch die flächendeckende Ermordung der Sinti_Sintezza und Roma_Romnja, der Pojaramos.


Aktuell wird die Singularität der Shoah in einem „zweiten Historikerstreit“ unter anderen Vorzeichen aufs Neue in Frage gestellt. Der australische Historiker Dirk Moses etwa kritisiert die überragende Stellung des deutschen Gedenkens an die Shoah, wodurch andere deutsche Verbrechen, wie der Genozid an den Herero und Nama von 1904-1908, verdrängt würden. Er unterstellt dem Shoah-Gedenken in Deutschland eine Absicht: die deutsch-kolonialen Verbrechen auszublenden. Zudem kritisiert er die daraus abgeleitete, vermeintliche Loyalität gegenüber Israel.
Die Aussage Moses übersieht nicht nur den Charakter der deutschen Israelsolidarität als Lippenbekenntnis, sondern auch die eingangs kurz skizzierte Geschichte der Gedenklandschaft. Moses schreibt in einem Sprachduktus der – zumindest in der deutschen Übersetzung – stark an Angriffe der „Neuen Rechten“ auf das Shoah-Gedenken erinnert. Dass sich Neurechte wie der IBler Martin Sellner positiv auf Moses Text bezogen, ist folgerichtig. Moses und andere fallen entweder auf das Gebaren deutscher Politiker herein, die die Aussage der Singularität der Shoah nur noch als hohle Phrase nutzen. Oder: Sie versuchen wider besseren Wissens das Shoah-Gedenken als Hindernis für ihre vermeintlich postkoloniale, allzu häufig aber antizionistische Agenda aus dem Weg zu räumen.


Es stimmt, dass in Deutschland neben dem Gedenken an die Shoah nicht auch ein notwendiger Fokus auch auf die Kolonialverbrechen gelegt wird. Der Kolonialismus und auch die (post-) kolonialen Genozide hinterließen Zerstörung und immense Schäden und riefen bis heute anhaltende katastrophale Abhängigkeiten hervor. Die Kolonialverbrechen spielen jedoch keine Rolle im Kollektivgedächtnis. Das liegt allerdings nicht im Gedenken an die Shoah begründet, sondern in den rassistischen Strukturen der deutschen Politik und Gesellschaft.


Andere Mitstreiter_innen von Moses im sogenannten „zweiten Historikerstreits“ kritisieren, dass das Gedenken in Deutschland zu einem Dogma geworden wäre. Die postkolonialen Kritiker_innen haben Recht, aber anders als sie meinen. Nichts anderes kritisieren Antifaschist_innen seit mehr als zwei Jahrzehnten, nichts anderes ist der Sinn dieser Gedenkveranstaltung hier, die versucht, ein anderes Gedenken zu ermöglichen. Die Schlussfolgerung aus dieser Kritik am offiziellen Gedenken darf aber nicht eine Abwertung des Shoah-Gedenkens sein, sondern muss lauten, für ein konsequentes Gedenken zu kämpfen. Unser Ziel ist es, den Opfern zu gedenken, Kontinuitätslinien aufzuzeigen und ein stetiges antifaschistisches Engagement zu fordern. Ein Gedenken, das nicht vergisst, wie mörderisch Antisemitismus und Rassismus auch noch heutzutage sind. Ein Gedenken, das nicht den Zweck erfüllt, sich international damit zu rühmen, den einzigartigen Zivilisationsbruch aufgearbeitet zu haben und als Nation geheilt zu sein. Die deutsche Politik konnte sich die zahlreichen Initiativen zum Gedenken an die Opfer des NS zu Eigen machen, die einst gegen den Konsens der BRD gegründet wurden. Das wiedervereinigte Deutschland konnte daraus Kapital im Sinne der Standortlogik schlagen und sich über die Einverleibung des Gedenkens schlussendlich wieder an den Westen anbinden. Es geht der deutschen Politik nicht um die Opfer – dann müssten etwa Debatten um Reparations- und Entschädigungszahlung nicht geführt werden, dann wäre der Nationalsozialismus juristisch aufgearbeitet sowie personelle Kontinuitäten nicht möglich gewesen. Deutschland geht es nur darum, wieder und weiterhin ein Big Player zu sein.
 
Deswegen heißt es für uns auch weiterhin: Deutschland? – Nie wieder!