Redebeitrag zu Antisemitismus und Geschichtsrevisionismus in Neukölln, gehalten auf der antifaschistischen Kundgebung am 9. November 2020 in Berlin-Moabit in Gedenken an die Novemberpogrome von 1938.
Liebe Antifaschist_innen,
Wir haben uns heute zu dieser Kundgebung versammelt, um den Opfern der Novemberpogromen von 1938 und des deutschen Antisemitismus zu gedenken. Wir tun dies in dem Bewusstsein, dass Antisemitismus bis heute untrennbar mit der deutschen Gegenwart verbunden bleibt. Er ist integraler Bestandteil des Denkens in der selbst ernannten Mitte der Gesellschaft, ebenso wie der Ideologie Neuköllner Neonazis.
Neukölln ist derzeit in aller Munde. Militante Neonazis terrorisieren hier seit längerem Antifaschist_innen und migrantisierte Personen. Ihre Feinde markieren sie auch öffentlich im Internet. So posteten die „Freien Kräfte Berlin Neukölln“ im August 2016 auf ihrer Facebookseite Grafiken mit den Adressen von linken Kneipen und Flüchtlingsunterkünften sowie einen Aufruf, gegen diese vorzugehen. Auf einer weiteren Karte mit den Umrissen von Berlin, die ausgerechnet am 09. November veröffentlicht wurde, waren die Adressen von siebzig jüdischen Einrichtung vermerkt. Versehen war diese Karte mit dem bewusst an NS-Antisemitismus anknüpfenden Zusatz: „Juden unter uns“. Antifaschist_innen hatten frühzeitig darauf hingewiesen, wer sich hinter der Facebookseite und somit auch hinter der antisemitischen Provokation verbirgt. Viel später zog die Polizei mit einer Hausdurchsuchung nach. Im Fokus: Julian Beyer – einer der drei Neuköllner Neonazis, die heute immer wieder auch mit den aktuellen Anschlägen in Verbindung gebracht wird.
Der deutsche Antisemitismus nach 1945 speist sich nach wie vor vielfach aus der Abwehr von Schuld. Während sich das bürgerlicher Gedenken auf die Läuterung der deutschen Nation bezieht, ist jegliches Gedenken ein ständiger Dorn im Auge neuer und alter Rechter. Gedenken ist für sie ein Stolperstein auf dem Weg zur endgültigen Rückkehr zum ungebrochen positiven Bezug auf den deutschen Nationalismus. Im Oktober 2017 sprach sich die Neuköllner AfD gegen die weitere Finanzierung der Verlegung der kleinen Gedenkplatten im Bezirk aus. Im November schließlich, kurz vor dem folgenden Jahrestag der Novemberpogrome, wurden in einer Nacht nahezu alle Neuköllner Stolpersteine südlich des S-Bahnrings aus dem Pflaster gebrochen und gestohlen. Die einen schwingen Reden, die anderen das Brecheisen: In Neukölln funktioniert die rechte Arbeitsteilung.
In ihren zahllosen Verbalausfällen gibt die Neuköllner AfD schon mal den Martin Walser. Etwa, wenn ein Verordneter im Neuköllner Bezirksparlament gegen Auschwitz als „Einschüchterungsmittel“ wettert, das für gegenwärtige Zwecke instrumentalisiert werde. Ob Volkstrauertag, Luftangriffe auf Dresden oder der Tod von Horst Wessel, über Jahren ließ auch die NS-affine Neuköllner Naziszene keine Gelegenheit zum Kranzabwurf und Gräber putzen aus. Der Märtyrerkult und der Kampf gegen den vermeintlichen „Schuldkult“ sind mehr als nur die sprichwörtlichen zwei Seiten einer Medaille. Als im August 2017 zwei Neonazis nachts losziehen, um Parolen zur Verherrlichung von Rudolf Hess zu sprühen, verkleben sie auch AfD- Aufkleber. Aktuell stehen Tilo Paulenz, der damals noch in der Neuköllner AfD aktiv war, und Sebastian Thom vor Gericht. Nicht wegen der vielfältigen Hinweise auf ihre Beteiligung an der Neuköllner Anschlagsserie, sondern weil sie von der Polizei zufällig bei ihrer nächtlichen Sprühtour beobachtet worden waren. Doch auch dieser Prozess steht mittlerweile vor dem aus.
Dass Staat und Polizei sich ein ums andere Mal disqualifizieren, kann uns als Antifaschist_innen nicht überraschen. Wir halten unser antifaschistisches Gedenken dagegen, das nicht müde wird, einzugreifen und auf die Straße zu gehen gegen Antisemitismus und Rassismus.
Erinnern heißt Handeln!