„Es ist geschehen und folglich kann es wieder geschehen.“
Diese Mahnung des Auschwitzüberlebenden Primo Levi bleibt uns auch weiterhin präsent.
Dem Gedenken an die deutschen NS-Verbrechen Gehör zu verschaffen, Konsequenzen daraus einzufordern und die Verhältnisse, die die nationalsozialistischen Verbrechen ermöglicht haben und weiterhin fortbestehen, anzuklagen, bleibt die wichtigste Aufgabe für alle Antifaschist*innen. In diesem Sinne laden wir Euch auch dieses Jahr am 9. November zu den Gedenkveranstaltungen in Moabit ein.
09. November 2021 | 18.00 Uhr | Gedenkkundgebung an die Novemberpogrome 1938 | Mahnmal Levetzowstraße (Berlin-Moabit)
Gemeinsam mit dem Zeitzeugen Horst Selbiger, Vertreter*innen von verschiedensten Initiativen und mit musikalischer Unterstützung wollen wir in unserem antifaschistischen Gedenken, Handeln und Eingreifen nicht müde werden und auch dieses Jahr auf die Straße gehen. Gleichzeitig gedenken wir der Shoah-Überlebenden und Antifaschistin Esther Bejarano, die am 10. Juli diesen Jahres verstarb. Ihr Vermächtnis ist unsere Verpflichtung.
Am hellichten Tag und unter aller Augen…
Am 9. November 1938 fanden die Novemberpogrome ihren Höhepunkt. Im deutschen Herrschaftsbereich wurden Jüdinnen*Juden vergewaltigt, inhaftiert, verschleppt und ermordet. Jüdische Geschäfte, Wohnungen, Gemeindehäuser und Synagogen wurden geplündert, zerstört und in Brand gesetzt. Auf den Straßen entfesselte sich der deutsche antisemitische Terror, der in der Nacht staatlich angestoßen und orchestriert wurde. SA und SS führten unterstützt durch Polizei und Feuerwehr die Morde, Brandstiftungen und Verwüstungen an. Die nicht-jüdische Bevölkerung beteiligte sich an dem Pogrom oder stimmte mit ihrem Schweigen zu. Insgesamt wurden in den Tagen um den 9. November 1.300 Jüdinnen*Juden ermordet, über die Hälfte der Gebetshäuser und Synagogen in Deutschland, Österreich und dem annektierten Sudetenland wurden zerstört. Ab dem 10. November erfolgte die Deportation von 30.000 Jüdinnen*Juden in Konzentrationslager. Die Pogrome waren Wegbereiter für die Shoah.
„Deutschland 2021“
Doch auch 83 Jahre nach den Novemberpogromen gehört Antisemitismus weiterhin zum deutschen Alltag. Heute, zwei Jahre nach dem antisemitischen Anschlag in Halle, tritt Hass auf Jüdinnen*Juden in Deutschland regelmäßig zu Tage. So entspann Anfang Oktober eine bundesweite Debatte über das Tragen jüdischer Symbole in der Öffentlichkeit und den Umgang mit antisemitischen Vorfällen, nachdem ein Leipziger Hotelmitarbeiter dem Sänger Gil Ofarim die Übernachtung verweigert haben soll.
Der Anblick jüdischen Lebens und jüdischer Symbole ist den Antisemit*innen jeglicher Couleur ein Dorn im Auge. Als im Kontext der militärischen Auseinandersetzung zwischen der Hamas und Israel im Mai diesen Jahres in vielen deutschen Städten Hunderte gegen Israel auf die Straße gingen, wurden Jüdinnen und Juden angegriffen. In Berlin reichte ebenfalls eine Davidstern-Kette aus, um mehrere Menschen antisemitisch zu beleidigen und zu schlagen. Erst vor Kurzem wurde in Berlin-Rummelsburg ein Israelischer Staatsbürger angesprochen auf seinen Glauben mit Reizgas besprüht und zu Boden gestoßen.
„Ungeimpft“ mit Judenstern
In Zeiten gesellschaftlicher Krisen hat Antisemitismus Hochkonjunktur. Das offenbart sich aktuell wieder in Bezug auf die Corona-Pandemie. Deutlich zeigt sich das in der NS-verharmlosenden Verwendung des „Judensterns“ in Verbindung mit dem Wort „Ungeimpft“. Corona-Leugner*innen verspotten so auf ihren Demonstrationen die Opfer des Faschismus, indem sie zeitweise Grundrechtseinschränkungen im Kontext der Pandemie mit der NS-Gesetzgebung gleichsetzen und sich selbst mit den Opfern des antisemitischen Vernichtungswahns des Nationalsozialismus. Neonazis sind mehr als nur Mitläufer*innen in den Anti-Corona-Protesten, sie nutzen die Proteste gezielt für ihre Zwecke. Die Proteste der Coronaleugner*innen sind anschlussfähig für die antisemitische Propaganda von Neonazis, so vertreiben sie beispielsweise eben jenes „Judenstern“-Motiv.
Antisemitismus äußert sich bei den Verschwörungsideolog*innen nicht (nur) als Hass auf das Jüdische. Es ist die vereinfachte Weltsicht, die personalisierte Herrschaft, also der Versuch, Entwicklungen, die nicht verstanden werden, einem Sündenbock anzuhängen. Wenn dann noch die nationalsozialistische Verfolgung von Jüdinnen*Juden für die eigene Opferinszenierung herhalten muss, zeugt das von einem Zynismus, dem entschieden entgegengetreten werden muss.
Umkämpftes Gedenken
In Berlin zeigt die Auseinandersetzung um die Bebauung des Umfelds des Gedenkorts Güterbahnhof Moabit sinnbildlich, wie fragil der gesellschaftliche Konsens in Bezug auf das Gedenken an die Verbrechen des Faschismus ist. Der Gedenkort, der an einen zentralen Deportationsort in der Stadt erinnert, war auch nach seiner Entstehung 2017 im Industriegebiet kaum sichtbar oder zugänglich.
Weitere erinnerungspolitische Kämpfe werden aktuell um die zwischenzeitlich geplante Umsetzung des Denkmals für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma Europas in Berlin-Mitte durch Baupläne der Deutschen Bahn geführt. „Die Mehrheitsgesellschaft muss mit diesem Ort an die Verbrechen der Geschichte erinnert werden“, merkte dazu eine Aktivistin bei Protesten von Sinti*zze und Rom*nja an. Die Notwendigkeit der Mahnung und von Gedenk- und Erinnerungsorten bleibt im vermeintlich geläuterten Deutschland alltäglich bestehen.
Kein Vergessen heißt: Gegen jeden Antisemitismus
All diese Fälle zeigen, dass Antisemitismus auch im Jahr 2021 virulent ist und dass die Erinnerung an die Verbrechen des Faschismus weiterhin verteidigt werden muss. Antisemitismus findet sich in allen Bevölkerungsgruppen und entsprechend laut müssen die Bündnisse sein, um diesen effektiv bekämpfen zu können. Unsere antifaschistische Praxis erschöpft sich nicht im Gedenken, sondern ist immer auch auf heute gerichtet. Das Gedenken an die Novemberpogrome ist somit immer auch ein Protest – gegen Antisemitismus in all seinen Formen, gegen die Verharmlosung der Verbrechen des Nationalsozialismus und für eine Solidarität mit allen Jüdinnen*Juden.
Antisemitismus, Antiziganismus, Rassismus und Nationalismus gehören in Deutschland keineswegs der Vergangenheit an. Ihnen gilt unsere Gegenwehr.
Auch dieses Jahr werden wir am 9. November eine Kundgebung veranstalten und laden zudem zu weiteren Führungen und Veranstaltungen ein wie etwa dem heutigen Rundgang zu Stätten ehemaligen jüdischen Lebens in Pankow. Im Anschluss an die Kundgebung wird es zudem einen Gedenkgang von jüdischen und Nachbarschafts Initiativen geben.
Unser Gedenken heißt:
– Solidarität mit allen von Antisemitismus Betroffenen
– Solidarität mit Israel
– Keine Versöhnung mit Deutschland
– Gegen jeden Antisemitismus