Ihr, die ihr sicher wohnt
In euren gewärmten Häusern,
Ihr, die ihr bei der Heimkehr am Abend
Warmes Essen findet und Freundesgesichter:
Fragt, ob das ein Mann ist:
Der arbeitet im Schlamm
Der kennt keinen Frieden
Der kämpft um ein Stück Brot
Der stirbt auf ein Ja, auf ein Nein hin.
Fragt, ob das eine Frau ist:
Kahlgeschoren und ohne Namen
Ohne Kraft der Erinnerung mehr
Leer die Augen und kalt der Schoß
Wie eine Kröte im Winter.
Denkt, daß dieses gewesen:
Diese Worte gebiete ich euch.
Ins Herz schärft sie euch ein,
Wenn ihr im Haus seid oder hinausgeht,
Wenn ihr euch niederlegt oder erhebt:
Sprecht sie wieder und wieder zu euren Söhnen.
Sonst sollen eure Häuser zerbersten,
Krankheiten über euch kommen,
Eure Nachgeborenen das Gesicht von euch wenden.
– Primo Levi (10. Januar 1946)
Am 27. Januar 1945 wurde Auschwitz durch die Rote Armee befreit. Auch nach über 75 Jahren gilt es weiterhin den Opfern der Shoa und des deutschen Antisemitismus zu gedenken. Wir tun dies in dem Bewusstsein, dass Antisemitismus bis heute untrennbar mit der deutschen Gegenwart verbunden bleibt. Er ist integraler Bestandteil des Denkens in der selbst ernannten Mitte der Gesellschaft ebenso wie der Ideologie Neuköllner Neonazis.
Der deutsche Antisemitismus nach 1945 speist sich nach wie vor vielfach aus der Abwehr von Schuld. Während sich das bürgerlicher Gedenken auf die Läuterung der deutschen Nation bezieht, ist jegliches Gedenken ein ständiger Dorn im Auge neuer und alter Rechter. Gedenken ist für sie ein Stolperstein auf dem Weg zur endgültigen Rückkehr zum ungebrochen positiven Bezug auf den deutschen Nationalismus. Im Oktober 2017 sprach sich die Neuköllner AfD gegen die Finanzierung der Verlegung weiterer der kleinen Gedenkplatten im Bezirk aus. Im November schließlich, kurz vor dem folgenden Jahrestag der Novemberpogrome, wurden in einer Nacht nahezu alle Neuköllner Stolpersteine südlich des S-Bahnrings aus dem Pflaster gebrochen und gestohlen. Die einen schwingen Reden, die anderen das Brecheisen: In Neukölln funktioniert die rechte Arbeitsteilung.
Wir halten unser antifaschistisches Gedenken dagegen, dass nicht müde wird einzugreifen und auf die Straße zu gehen gegen Antisemitismus und Rassismus. Erinnern heißt sich auch mit den weiterhin aktuellen Kämpfen der Überlebenden zu solidarisieren und gleichzeitig jeglichen rechten Vereinnahmungen und revisionistischen Einstellungen in Gesellschaft und Politik entgegen zu treten.
Wir veröffentlichen dieses Bild und den Text von Primo Levi nun schon seit einigen Jahren, ohne das beide an ihrer Aktualität und Gültigkeit verloren hätten.
Erinnern heißt Handeln!